Verdrängung findet Stadt – gehört die Straße nur den Autos?

Ende Februar stirbt ein Radfahrer auf der Breitenfurter Straße in Wien Meidling. Er wird von einem LKW-Fahrer übersehen und überrollt. Fünf Autospuren, kein Radweg. Dieser tödliche Fahrradunfall hätte verhindert werden können, wäre der öffentliche Raum in Wien anders verteilt.

Dass die Verteilung auf den Straßen im Ungleichgewicht ist, erkennt man mit einem Blick vor die Haustüre: Enge Gehsteige, breite Autofahrbahnen und links und rechts gefüllte Parkspuren. Radwege fehlen in den meisten Fällen, sind oft maximal mit weißer Farbe an den Rand der Autospur gemalt.

Radkummerkasten

Der Platzmangel mit dem Radfahrende in Wien täglich konfrontiert sind, aber auch andere Ärgernisse führen dazu, dass die Karte des Radkummerkastens prall gefüllt mit Punkten ist. Ja, den gibt es. Nicht physisch als gelbe Box mit Briefschlitz für zweirädrige Beschwerden. Aber online. Und in dieser Version des Kummerkastens steht jeder Punkt für eine Problemstelle. Rainer Stummer von der Radlobby Wien und Platz für Wien erzählt uns, dass es seit Beginn des Radkummerkastens Ende 2011 knapp 10.000 Einträge gibt. Gefahrenstellen, fehlende Radbügel, geforderte Einbahnöffnungen, fehlende Schilder, Lückenschluss, oder nicht vorhandene baulich-getrennte Radwege. Alles Dinge, die von der Wiener Rad-Community in den Radkummerkasten eingetragen werden. Gesammelt werden die Einträge von der Radlobby Wien an die zuständigen Magistratsabteilungen, die Vorstehenden des betroffenen Bezirks und die Mobilitätsagentur der Stadt Wien weitergegeben. Und dann wird gewartet. Manchmal gibt es Erfolgserlebnisse, öfters tut sich nichts und man muss als Radlerin weiter auf Verbesserungen warten.

Nicht warten, sondern ein Zeichen setzen will Clara Stobl. Sie hat kein Auto, dafür zwei Kinder und ein Lastenfahrrad. Damit bringt sie die Kleinen zum Kindergarten. Manchmal fährt der dreieinhalbjährige Sohn sogar schon selbst mit dem Rad, manchmal wird auch mit der U-Bahn gefahren. 

Auf den ersten Blick ist die Strecke im zweiten Wiener Gemeindebezirk ein kurzer, unkomplizierter Weg, sogar fast durchgängig mit irgendeiner Form von Radweg, nur ein Kilometer Luftlinie bis zum Kindergarten. Nach 14(!) überquerten Autospuren, keinen Abstellmöglichkeiten, Ampeln, die für den Autoverkehr geschaltet und Radwegen, die teilweise zu schmal für das Lastenfahrrad sind, ist klar: Zeichen setzen kann frustrierend sein.

Am meisten stört Clara, dass Radelnde nur den “Restplatz” auf der Straße bekommen und dann noch gegen Fußgängerinnen und den Autoverkehr ausgespielt werden. Seit Beginn der Corona-Pandemie muss dieser kleine Restplatz jetzt auch noch mit spürbar mehr Radlerinnen geteilt werden. Für Clara sieht Gleichgewicht und eine faire Verteilung anders aus.

Verteilungsfrage

Ihr Gefühl kann durch Zahlen bestätigt werden, die Platzverteilung in Wien sieht aktuell so aus: 67% Autofahrbahnen & Parkspuren, 32% Gehsteige, 1% baulich getrennte Radwege.

Dabei werden nur 27% der Wege mit dem Auto zurückgelegt und nur ein Drittel der Wiener Bevölkerung besitzt überhaupt ein Auto.

Auch für Fußgängerinnen sieht es nicht viel besser aus. 38 Prozent der Gehsteige in Wien sind schmäler als zwei Meter. Das heißt, dass fast 1.500 Kilometer Gehsteige die Mindestbreite verfehlen, die sich die Stadt selbst bereits im Masterplan Verkehr 2003 als Richtlinie gesetzt hat. In Wien dominieren die Autos und das muss sich endlich ändern, wenn es nach Platz für Wien geht.

“Der Verkehr ist der einzige Sektor, in dem die CO2-Emissionen steigen und es wird sich in Zukunft einfach nicht mehr ausgehen, dass sich so viele Menschen alleine mit zwei Tonnen herumkutschieren lassen”, sagt Johann Schneider, Raumplaner und Aktivist bei Platz für Wien.

“Wir müssen einfach jetzt umsteigen auf öffentlichen Verkehr zum einen, aber vor allem auch auf aktive Mobilitätsformen – in Wien vor allem aufs Radfahren”, ergänzt Viktoria Gabriel, Raumplanerin und Aktivistin bei latz für Wien.

Dazu ist in erster Linie die Politik gefordert. Nur wenn die Rahmenbedingungen stimmen und Sicherheit geboten ist, kommt ein Umsteigen für viele Menschen erst in Frage. Es scheint sogar so, als wäre das bei den Entscheidungsträgerinnen angekommen. Rad-Highway, Donaustadt-Offensive und Mega-Radwegoffensive machen Schlagzeilen.

Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) bezeichnet das Radwegebauprogramm für 2022 als das größte der Geschichte Wiens. So sollen dieses Jahr 17 Kilometer an neuer Radinfrastruktur entstehen und das verteilt auf 44 Projekte.

Zum Vergleich: Im Vorjahr sind nur 11 Kilometer dazugekommen.

Das klingt also nicht schlecht. Wenn man sich das Programm nicht genauer anschaut.

Und genau das hat der Verkehrswissenschaftler Ulrich Leth von der TU Wien gemacht.

Schau genau: Nicht alles, was glänzt, ist neu

Er hat das Programm analysiert und bemerkt, dass bei nur 17 der 44 angekündigten Projekte tatsächlich neue Radwege gebaut werden.

Das sind in Summe nur knapp über 5 Kilometer an neuer Infrastruktur und damit nicht mehr als im Vorjahr.

Der Rest sind so Dinge wie geöffnete Einbahnen, Verbreiterungen von bestehenden Radwegen oder fahrradfreundliche Straßen. Übrigens auch nicht im Programm vorgesehen: die Breitenfurter Straße, auf der der tödliche Fahrradunfall Ende Februar passiert ist.

Die von Untangled befragten Expertinnen und Experten sind sich einig: Die Ansätze sind da. Es tut sich etwas. Aber: es geht zu langsam, es ist zu wenig und die Maßnahmen werden dann in der Realität oft nicht so umgesetzt wie angekündigt.

Die große Chance für Veränderung bietet jetzt das flächendeckende Parkpickerl, das seit März auf ganz Wien ausgeweitet wurde. Die Parkspuren waren in den ersten Wochen nach der Neueinführung leer – die Stadt spricht von 76.000 freigewordenen Parkplätzen.

Und die Stadt verspricht auch gleich wieder einiges: 100 km Radwege mit einer Breite von drei Metern und 290 km Gehsteige, die um einen Meter verbreitert werden.

Es bleibt zu hoffen, dass die Umgestaltung rasch passiert. Denn passiert nichts, könnte es zu einem Phänomen kommen, das Experten schon bei anderen Parkpickerl-Einführungen beobachtet haben.

  1. Das Parkpickerl wird eingeführt.
  2. Pendler kommen nicht mehr mit dem Auto in die Stadt, auf einmal sind die Parkplätze unbenutzt und ganze Straßenzüge stehen leer.
  3. Man ist überrascht von der Wirksamkeit der Maßnahme und hat keine Pläne zur Umnutzung des freigewordenen öffentlichen Raums in der Schublade.
  4. Die Anwohnerinnen und Anwohner, die einen Garagenplatz hatten, geben diesen auf und stellen ihre Autos mit dem neuen, günstigen Parkpickerl im öffentlichen Raum ab.
  5. Die nun leeren Garagen werden an Pendler vermietet. Die jeweiligen Autos haben Plätze getauscht.
  6. Ein beträchtlicher Teil der Wirkung des Parkpickerls verpufft: der öffentliche Raum wird wieder großteils zugeparkt (diesmal von den Fahrzeugen der Anrainerinnen und Anrainer); Garagen leeren sich; für alternative Nutzungen des öffentlichen Raums ist wieder kein Platz.

Links:

Radunfall: https://kurier.at/chronik/wien/radfahrer-bei-kollision-mit-betonmischer-in-wien-gestorben/401914993

Parkpickerl: https://platzfuer.wien/2022/03/08/chancen-durch-die-parkpickerl-ausweitung-wird-die-stadt-sie-nutzen/

Fahrradbauplan 2022: 

Radkummerkasten: