Wir halten bei fast 28.000 neuen Corona-Infektionen im Sieben-Tage-Schnitt. Es ist März 2022. Welle eins, zwei und drei sind bereits dramatisch verlaufen. Jetzt wütet Omicron mit voller Wucht. Die Virusvariante ist so infektiös, dass es mehr oder weniger Glückssache ist, wer sich ansteckt und wer nicht. Auch die Spitalsbelegung ist wieder im Anstieg. Gleichzeitig müssen deutlich weniger Menschen auf den Intensivstationen versorgt werden. Wir sind pandemiemüde und erschöpft.
Während die einen um ihr gesundheitliches Wohlergehen und das ihrer Liebsten fürchten, während die anderen trotz immer noch stark geforderter Spitäler und ungewissen Zukunftsprognosen wissenschaftliche Fakten nicht wahrhaben wollen, wissen viele Menschen bereits, was es heißen kann, an Corona zu erkranken. Oder genauer gesagt: Was es heißen kann, an Corona zu erkranken und danach nicht mehr gesund zu werden. Unter dem Begriff „Long Covid“ werden diese anhaltenden, häufig schwer beeinträchtigenden Gesundheitsbeschwerden mittlerweile zusammengefasst. Auch „Post Covid“ ist ein geläufiger Terminus unter Expertinnen und Experten.
Mühsam. Aber aushaltbar?
Bevor ich mit meiner Recherche zum Thema „Long Covid“ begonnen habe, hatte ich nur wenig Ahnung davon, was das für die Betroffenen genau bedeutet. Die vereinzelten Medienberichte (etwa hier), in denen thematisiert wurde, dass das Ende einer Covid-Infektion noch lange nicht heißen muss, dass das Schlimmste damit überstanden ist, habe ich zwar gehört oder gelesen, aber nicht so richtig gespürt. Extreme Müdigkeit, Kopfweh, Gliederschmerzen, Schlafstörungen – um nur einige der ziemlich häufigen Beschwerden zu erwähnen – das klingt zwar alles mühsam, aber im Vergleich zur Akuterkrankung erschien mir das mehr oder weniger aushaltbar.
Dann habe ich Jana, Magdalena und Clara Marie getroffen. Und alleine ihre Stimmen, wenn sie mir von ihrem radikal auf den Kopf gestellten Leben berichten, sprechen Bände (Auszug aus der Folge „Long Covid: Aufatmen mit Bruder Jakob“ hier): Sie plagen sich beim Reden. Sie sind verletzlich und geben ihr Bestes um bei Alltagssituationen wie Kochen, Lernen oder auch beim Wäscheaufhängen nicht zu verzweifeln. Sogar das Treffen mit Freunden kann oft zu anstrengend sein. An arbeiten wie zuvor ist für die drei Frauen nicht zu denken. Für die erst 17-jährige Clara Marie heißt das: Ihre Matura wackelt. Ein regelmäßiger Schulbesuch ist auch Monate nach ihrer Covid-Erkrankung nicht möglich.
Gezwungen zu Geduld
Was mir auffällt: Meine Gesprächspartnerinnen sind durch ihre Erkrankung zu einem Intensivkurs in „Geduldstraining“ gezwungen. Und da haben sie schon jede Menge Arbeit geleistet. Sie wissen, dass bei Long Covid alles im Fluss ist. Nur weil es ihnen heute besser geht, heißt das noch lange nicht, dass der nächste Rückfall nicht schon herandräut. Und auch was die Behandlung der enormen Bandbreite an Symptomen anlangt, ist es immer noch ein Ausprobieren und weniger ein gesichteres medizinisches Vorgehen. Das bringt viel Frust für die Betroffenen. Aktuelle therapeutische Leitlinien für Diagnose von Long Covid: hier.
Jana, Magdalena und Clara Marie wollten nicht mehr ohnmächtig abwarten und auf Besserung hoffen. Sie haben sich über Selbsthilfegruppen mit anderen zusammengetan. Und sie haben sich neben medizinischer Hilfe auch andere Unterstützung gesucht. Zum Beispiel bei Künstlerinnen und Künstlern, konkret bei Sängerinnen Sängern.
Kunst als Therapie
Das klingt beim ersten Erwähnen ein wenig ungewöhnlich bis irritierend, ist aber grundsätzlich gar nicht so neu. Social prescribing ist in Großbritannien etwa schon lange Teil der Gesundheitsversorgung. Engagierte Menschen an der English National Opera waren die ersten, die diese Form der Therapie auf Long Covid-Betroffene zugeschnitten haben (siehe hier). Etwas allgemeiner formuliert, funktioniert Social prescribing in etwa so: Der Allgemeinmediziner oder die Allgemeinmedizinierin schickt Patientinnen und Patienten, für die eine solche nicht-medizinische „Behandlung“ in Frage kommt, zu einer „Link person“. Im gemeinsamen Gespräch wird hier erarbeitet, welche kulturellen Angebote der Person verschrieben werden. Ja, richtig gelesen: Es geht um Theater-, Konzertbesuche & Co. auf Rezept! (Mehr dazu hier)
Das Konzept wird mittlerweile auch in Österreich bereits erprobt. Neun Projekte in vier Bundesländern haben dafür sogar Fördergelder von Gesundheitsministerium, Krankenkasse und Stadt Wien erhalten (Details siehe hier).
Gemeinsam gesund werden
Meine drei Gesprächspartnerinnen mit Long Covid habe ich während des Projekts „Aufatmen“ (Details hier) begleitet. Sechs Wochen lang haben sie mit professionellen Sängerinnen und Musiktherapeutinnen gearbeitet. Das Ganze wurde wissenschaftlich begleitet und soll nach der Pilotphase für weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer anlaufen. Ziel von „Aufatmen“ war es unter anderem, die – meist stark beeinträchtigte – Lungenfunktion der Betroffenen zu verbessern.
Gleichzeitig wissen die Initatorinnen um die positiven Auswirkungen von Singen und Gruppenerfahrung auf die Psyche der fast ausschließlich weiblichen Kursteilnehmerinnen. Das haben mir eigentlich alle meine Gesprächspartnerinnen berichtet: Wie sehr sie sich über das Zusammensein mit Menschen freuen, die genau wissen, was Long Covid bedeutet. Wo es keiner Erklärungen bedarf, wo man sich verletzlich zeigen kann und gegenseitig mit Ratschlägen hilft. Reinhören in die Folge „Long Covid: Aufatmen mit Bruder Jakob“ : hier.
Am Ende ziehen Jana, Magdalena und Clara Marie ganz unterschiedlich Bilanz über den Verlauf ihrer Erkrankung und über das Projekt „Aufatmen“. Wie sie sich ihre Zukunft vorstellen? Hier höre ich vorsichtigen Optimismus, aber auch Verzagtheit. Das Ende meiner Recherche wird wohl nicht das Ende unserer Bekanntschaft sein. (Karin Riss, 2. März 2022)
Selbsthilfegruppe Long Covid Austria:
https://www.longcovidaustria.at
Ambulanz Therme Wien Med:
https://www.thermewienmed.at/rehabilitation/post-covid/
Long Covid Ambulanz AKH Wien:
https://www.meduniwien.ac.at/web/forschung/forschung-zu-covid-19/
Projekt „Aufatmen“:
https://www.aufatmen-austria.eu
Verein Arts for Health Austria:
https://www.artsforhealthaustria.eu
Programm „Breathe“ an der English National Opera:
https://eno.org/eno-breathe/how-eno-breathe-helped-me/
Originalpublikationen:
Characterizing long COVID in an international cohort: 7 month of impact and their symptoms
https://www.thelancet.com/journals/eclinm/article/PIIS2589-5370(21)00299-6/fulltext
NIH launches new initiative to study „Long COVID“:
https://www.nih.gov/about-nih/who-we-are/nih-director/statements/nih-launches-new-initiative-study-long-Covid
WHO-Studie: What ist he evidence on the role oft he arts in improving health and wellbeing. A scoping review.2019
https://www.euro.who.int/en/publications/abstracts/what-is-the-evidence-on-the-role-of-the-arts-in-improving-health-and-well-being-a-scoping-review-2019
Studie: Singing for lung health. Service Evalutaion oft he British Lung Foundation programme
https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1757913918774079